Mensch hat zu träumen verlernt
In Tschechien tobt derzeit der Präsidentschaftswahlkampf. Die vergangenen Tage verliefen wohl eher unerfreulich. Medienberichten zufolge argumentierten beide Kandidaten für die Burg kaum staatsmännisch. Vielleicht halten sie heute inne und gedenken eines Mannes, der vor 20 Jahren der erste frei gewählte Präsident Tschechiens wurde, Václav Havel.
Havel, geboren am 5. Oktober 1936, lernte bereits in jungen Jahren, was die kommunistische Machtergreifung für sein Land bedeutete. Die Diktatoren enteigneten nicht nur seine großbürgerliche Familie, sie verweigerten ihm auch eine angemessene Ausbildung. Nach Abschluss der Sekundarstufe I musste er in einem Chemielabor als Assistent arbeiten. Glücklicherweise gab es die Möglichkeit der Abendschule. Havel nutzte sie, ohne aber danach das gewünschte Studium absolvieren zu dürfen. Zwei Jahre studierte er daher Wirtschaft, verließ die Hochschule aber ohne Abschluss. Nebenher schrieb er für Literatur– und Theaterzeitschriften.
Nach der Militärzeit trat er in den Dienst zweier kleiner Bühnen, die ihn als Techniker beschäftigten und seine ersten Stücke aufführten. Schnell gelang ihm der Durchbruch. Da seine Werke bald in andere Sprachen übersetzt wurden, gehörte er seit den sechziger Jahren zu den international geachteten Stimmen der Tschechoslowakei. Seine Grundaussage würde man heute als wertkonservativ einstufen: Der Mensch habe sich von seinen natürlichen Lebensgrundlagen entfernt. An die Stelle einer Orientierung an einer Idealvorstellung, verbunden mit einer höheren Instanz – für Havel Gott – seien Wissenschaft und Technik getreten, die alles rational erklärbar machen. Gewissermaßen hat der Mensch zu träumen verlernt. Darin sah Havel das Hauptübel, das er nicht nur für den Kommunismus, sondern auch für die Umweltzerstörung und andere Gefahren verantwortlich machte. Der Kommunismus suchte nach Havels Auffassung diese Entfremdung in höchster Form zu vollenden, der wissenschaftlichen Gestaltung und Organisation des gesellschaftlichen Lebens. Dies konnte natürlich nur auf der Lüge basieren; man vergleiche einfach mal die tatsächlichen Arbeitsbedingungen der Arbeiter im Ostblock mit denen ihrer Kollegen im Westen.
Etwa zeitgleich mit Havels literarischem Durchbruch begann Anfang der sechziger Jahre in der Kommunistischen Partei eine Debatte zu wirtschaftlichen Fragen. Reformer um Ota Šik forderten, die schon damals gescheiterte Planwirtschaft durch eine sozialistische Marktwirtschaft abzulösen. Zugleich kämpften die slowakischen Kommunisten unter ihrem ersten Sekretär, Alexander Dub?ek, um die Gleichberechtigung im Bundesstaat – ein in der historischen Wertung der Ereignisse oftmals vernachlässigter Faktor. Wie wir wissen, setzten sich Šik und Dub?ek im Innern durch; nach wenigen Monaten marschierten dann Truppen der Sowjetunion, Bulgariens, Polens und Ungarns in der Tschechoslowakei ein und machten dem Prager Frühling ein Ende.
Für Havel, der bereits 1967 auf dem IV. Schriftstellerkongress die Zensur kritisiert hatte, bedeutete dies endgültig den Schritt in die aktive politische Opposition. Bekannt wurde die „Charta 77“, ein Protest führender Intellektueller, Kleriker, aber auch oppositioneller Politiker gegen die Menschenrechtsverstöße. Auslöser war die Verhaftung der Mitglieder einer psychedelischen Rockmusikgruppe wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“. Havel nutzte seine internationale Bekanntheit aber allgemein für den Kampf gegen die Diktatoren. Insgesamt rund fünf Jahre Haft waren die Folge. Geistig und psychisch zermürbten sie ihn nicht, ruinierten aber seine körperliche Gesundheit. Dennoch fand er die Kraft, weiter gegen das Unrecht zu kämpfen.
Als dann Ende der achtziger Jahre der Ostblock bankrott war, setzte sich Havel mit gleichem Engagement für einen friedlichen Übergang ein. Ihm und anderen besonnenen Männern verdankte die Tschechoslowakei die „Samtene Revolution“. Natürlich spielte dabei eine Rolle, dass sich Staatspräsident Gustáv Husák, starrsinnig bis kurz vor Schluss, den Fakten beugte und kein Blutvergießen riskierte; ähnliches durften wir glücklicherweise auch in der DDR, in Polen und Ungarn beobachten. Nach Husáks wurde Havel am 29. Dezember 1989 als Kandidat des von ihm mitbegründeten Bürgerforums von einer kommunistisch dominierten Versammlung zum Regierungspräsidenten gewählt. Nach den Wahlen vom 5. Juli 1990 votierten die nunmehr frei gewählten Abgeordneten für ihn.
Während seiner Präsidentschaft gelang der Wandel zu einem marktwirtschaftlichen System, zugleich die Stabilisierung der Demokratie. Wie schnell sich die demokratischen Strukturen festigten, erkennt man in dem Feld, in dem Havel scheiterte. Mit großem Engagement setzte er sich für den Erhalt der Tschechoslowakei ein. Der Einheitsstaat ließ sich aber nicht bewahren, da beide Nationen nach Unabhängigkeit strebten, die Slowaken stärker als die Tschechen. Bereits 1992 verweigerten die Slowaken Havel bei der anstehenden Präsidentenwahl ihre Stimmen. Havel trat zurück und begleitete die Staatstrennung im Hintergrund. Am 26. Januar 1993 dann wählten die Tschechen ihn mit großer Mehrheit zu ihrem Staatspräsidenten, eine Entscheidung, die sie am 20. Januar 1998 wiederholten. Bis zum 2. Februar 2003 saß Havel in der Burg.
Ähnlich dem deutschen Staatsoberhaupt hat auch das tschechische vor allem repräsentative Aufgaben. Havel versuchte zwar, in Gesprächen seinen Einfluss geltend zu machen. Die radikale Wirtschaftspolitik des Ministerpräsidenten Václav Klaus konnte er jedoch nicht verhindern. Klaus seinerseits sorgte dafür, dass Havel mehr und mehr isoliert wurde. Außerhalb Tschechiens galt er zwar weiterhin als die Stimme seines Landes. Innenpolitisch hatte er aber keine Einflussmöglichkeiten mehr. Dies blieb auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt so. Zahlreiche renommierte Preise wurden ihm zugesprochen, zudem hielt er als Laudator und zu weiteren Gelegenheiten vielfach positiv aufgenommene Ansprachen. Seine Zeit aber war abgelaufen.
Als Václav Havel am 18. Dezember 2011 verstarb, verneigte sich Europa vor einem großen Intellektuellen, der auch in den Niederungen des Alltags Bedeutendes geleistet hatte.
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