Eigenes Denken und Handeln hinterfragen
Gibt es im Deutschen Bundestag tatsächlich lauter sozialdemokratische Parteien? Sind Christ-, Frei- und Sozialdemokraten wirklich nicht voneinander zu unterscheiden? Spielt es überhaupt keine Rolle mehr, wen man wählt, da die Politik doch dieselbe bleibt?
Wer die veröffentlichte Meinung studiert, wer sich auf der Straße umhört, der dürfte schnell ins Grübeln geraten und sich Sorgen um die politische Vielfalt in unserem Lande machen. Scheinbar ist alles gleich, gleich auf welcher Seite des Plenums die Politiker sitzen. Ein Blick in die Geschichte belegt aber zweifelsfrei, dass es mindestens einen wesentlichen Unterschied zwischen den so genannten Lagern gibt. Er liegt in der Reflektion.
Von Anbeginn hinterfragten Sozialdemokraten ihr eigenes Denken und Handeln. Legendär wurde die Debatte zwischen den Revolutionären und Revisionisten. Erstere, für die vor allem Karl Kautsky stand, stellten das Parteiprogramm über den Alltag, der schon zu einer Zeit reformorientiert war, als die Sozialdemokraten noch nicht an Regierungen beteiligt waren. Die Revisionisten um Eduard Bernstein interessierte die Rhetorik weniger als die Praxis. „Das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung ist alles“, erklärte Bernstein in seinem Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“. Was wunder, dass Bernstein kritisch die seinerzeit noch marxistisch geprägten Denkmuster hinterfragte.
Seine Enkel entrümpelten die Programmatik, ohne aber deswegen die kritische Reflektion mit dem eigenen Denken und Handeln aufzugeben. Besonders deutlich kann man dies am Beispiel der unmittelbaren Nachkriegszeit aufzeigen. Als einzige Partei wurde die SPD in der Sowjetischen Zone nicht gleichgeschaltet. Stattdessen verbot die Sowjetische Militäradministration nach der Zwangsfusion mit der KPD zur SED sämtliche sozialdemokratischen Aktivitäten. Nur in Berlin musste sie einen Kompromiss schließen, da die Westalliierten ihrerseits mit dem Verbot der SED drohten. Die vier Mächte einigten sich darauf, SPD und SED in allen vier Sektoren zuzulassen. Bis zum 13. August 1961 gab es die SPD ganz offiziell auch im Sowjetischen Sektor, nahm aber als einzige Partei nie an den Scheinwahlen teil. Dennoch prüften Sozialdemokraten kritisch ihr Handeln und bemerkten unter anderem, dass die 18 Prozent Ja-Stimmen in den Berliner Westsektoren – allein dort durften die Mitglieder am 31. März 1946 über den Zusammenschluss abstimmen; 82 Prozent sagten „Nein“ – 18 Prozent zu viel waren. In den Parteien, deren östlichen Landesverbände gleichgeschaltet wurden, hielt sich die Reflektion auch im freien Westen in engen Grenzen.
Dabei blieb es nach der deutschen Vereinigung, als sich die gleichgeschalteten Ostparteien schnell Parteien aus dem Westen anschlossen. Manch einer machte erst im alten, dann im neuen System Karriere. Derweil hinterfragten die Sozialdemokraten ihr Denken und Handeln, zum Beispiel im Zeitalter der Entspannungspolitik. Deutschlandpolitisch brachte ein Christdemokrat den „Wandel durch Annäherung“, wie der Sozialdemokrat Egon Bahr treffend formulierte, auf den Höhepunkt: Helmut Kohl empfing 1987 Erich Honecker zum Staatsbesuch in Bonn. Aus damaliger Perspektive ein zweifellos richtiger Schritt, aus damaliger Perspektive ein Verdienst Kohls. Reflektionen blieben Mangelware – sowohl anlässlich der jüngsten Ehrungen Kohls als auch während der Feiern zu Jahrestagen der deutschen Vereinigung. Sozialdemokraten würden dieses Kapitel der Geschichte bis heute recht ausgiebig diskutieren, wäre 1987 der Kanzler Sozialdemokrat gewesen. Insbesondere vor dem Hintergrund der Ereignisse zwei Jahre später.
Mitteleuropa 2022 (E 2)
ISBN: 978-3-95402-382-0
Preis: 54,00 €
Versandkostenfreie Lieferung innerhalb Deutschlands.
Jetzt bestellen