„Es muss demokratisch aussehen …“
Als wir am 17. Juni des Volksaufstandes in der DDR vor 60 Jahren gedachten, hörten wir mitunter die These, die Bürger hätten Walter Ulbricht vor dem bevorstehenden Sturz bewahrt. Womöglich basiert die Aussage auf dem in verschiedenen Formen zitierten Satz des kurz zuvor ins Amt gekommenen sowjetischen Hohen Kommissars, Vladimir Semjonovitsch Semjonov, die DDR-Führung werde „in 14 Tagen keinen Staat mehr“ haben, wenn sie ihre Politik nicht ändere. Mit Sicherheit haben sich die Machthaber in Moskau – von dort erhielten die SED-Funktionäre bis kurz vor Schluss ihre Direktiven – auch ihre Gedanken über die Lage in der DDR gemacht. Seine politische Rettung verdankte Ulbricht aber vor allem dem eigenen Geschick.
Keine zehn Tage nach der Niederschlagung des Volksaufstandes geschah in Moskau nämlich Unvorstellbares. Eine Gruppe Politbüro-Mitglieder um Georgi Maximilianovitsch Malenkov und Nikita Sergejevitsch Chruschtschov – Ersterer war seit dem Tod Stalins Vorsitzender des Ministerrates, Letzterer Erster Sekretär der KPdSU – hatte den mächtigen Innenminister und Geheimdienstchef Lavrentij Pavlovitsch Berija kurzerhand verhaften lassen. Im Dezember wurde Berija, während des Terrors der dreißiger Jahre einer der engsten Weggefährten Stalins, dann hingerichtet.
Im Politbüro der SED war nach dem 17. Juni heftige Kritik am Staatssicherheitsdienst wach geworden, der die Erhebung ebenso wenig vorhergesehen hatte wie die westlichen Geheimdienste. Der Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, machte im Gegenzug Ulbrichts bürokratischen Führungsstil für den Aufstand verantwortlich. Unterstützung bekam er von Rudolf Herrnstadt, dem Chefredakteur des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“. Beide fanden im Politbüro möglicherweise eine knappe Mehrheit, um Ulbricht absetzen zu können. Zaisser hatte naturgemäß Kontakte zu seinem Amtskollegen Berija. Inwiefern er sich dessen Rückendeckung geholt hatte, ist umstritten. Mit Sicherheit aber glaubte Zaisser, in Berija einen mächtigen Bundesgenossen zu haben.
Nach Berijas Sturz versicherte sich Ulbricht jedoch schleunigst der Unterstützung Malenkovs und Chruschtschovs und zeichnete geschickt eine Linie von Berija zu Zaisser und Herrnstadt. Der „Herrnstadt-Zaisser-Fraktion“ – „Fraktion“ war in der SED eines der schlimmsten Schimpfworte überhaupt – warf er eine „kapitulantenhafte Haltung“ vor. Die übrigen Mitglieder des Politbüros und des Zentralkomitees vermuteten zu Recht, dass Ulbricht die Moskauer Linie vertrat. Zaisser und Herrnstadt verloren ihre Ämter und ihre Sitze im Politbüro und Zentralkomitee und wurden schließlich auch aus der SED ausgeschlossen. Ulbricht dagegen saß fester denn je im Sattel, bis ihn Erich Honecker 1971 stürzte – nachdem Moskau den Daumen gesenkt hatte.
Nur wenige Politiker in Deutschland, ja, vielleicht sogar in Europa, bewiesen ein ähnliches Gespür für die Macht wie der gelernte Möbeltischler aus Leipzig. Daher hielt er sich knapp 22 Jahre an der Spitze des Staates. Rechnet man die Jahre vor der offiziellen Gründung der DDR hinzu, als sowjetische Militärs Ulbricht und seine Gesinnungsgenossen nicht bloß scherzhaft als „deutsche Regierung“ bezeichneten, war er ziemlich genau 26 Jahre an der Macht. Allein Otto von Bismarck brachte es auf eine längere Amtszeit. Ein Klima ständiger Verfolgung auch im innersten Machtzirkel brauchte der preußische Staatsminister aber nicht zu fürchten.
Walter Ernst Paul Ulbrichts Aufstieg begann während der Weimarer Republik. Geboren am 30. Juni 1893, trat er 1908 der SPD bei. Dort schloss er sich dem linken Flügel um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg an und wechselte 1917 zur USPD. 1920 trat er der KPD bei, für die er von 1926 bis 1929 im sächsischen Landtag und ab 1928 im Deutschen Reichstag saß. Er gehörte dem Führungszirkel um Ernst Thälmann an und bekämpfte bis 1933 die Sozialdemokratie und die demokratische Republik gleichermaßen. Während des gemeinsam von der KPD und der NSDAP organisierten Streiks der Beschäftigten der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) im November 1932 trat Ulbricht auf einer Propagandakundgebung gemeinsam mit Joseph Goebbels in Erscheinung.
Nach der Machtübertragung an Adolf Hitler blieb Ulbricht für kurze Zeit noch in Deutschland. Anders als Thälmann wurde er nicht verhaftet, sondern konnte nach Paris emigrieren. Von dort aus führte er die formal nicht verbotene KPD. Während des Spanischen Bürgerkriegs unterstützte er den Kampf gegen antistalinistische Republikaner. 1938 ging Ulbricht dann nach Moskau. Inwiefern er sich dort am stalinistischen Terror beteiligte, ist umstritten. Eindeutig kann man sagen, dass Ulbricht mit sicherem Gespür stets auf Stalins Linie lag. Den Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt und den kurz darauf geschlossenen Freundschaftsvertrag unterstützte er ebenso wie nach dem 22. Juni 1941 den Verteidigungskrieg der Sowjetunion gegen Deutschland.
Noch vor der deutschen Kapitulation kehrte Ulbricht mit neun weiteren KPD-Mitgliedern nach Deutschland zurück. Am 30. April 1945 flog die so genannte „Gruppe Ulbricht“ an die Oder-Neiße-Linie, um dann am 2. Mai Berlin zu erreichen. Sofort begann die Gruppe Ulbricht mit dem Aufbau einer neuen Verwaltung: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“
In der Partei hielt Ulbricht die Fäden so fest in der Hand, dass er sich nach der Zwangsvereinigung der KPD mit der SPD, 1946, sogar leisten konnte, nur stellvertretender Vorsitzender zu werden. An der Spitze standen Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl. Auch 1949 begnügte sich Ulbricht mit einem Posten in der zweiten Reihe, als stellvertretender Ministerpräsident der DDR hinter Grotewohl. Erst 1950 übernahm er auch formal eine Führungsposition, den Posten des Generalsekretärs der SED.
Keineswegs war er aber an der Spitze der Partei unumstritten. Das Misstrauen der Mitglieder im Zentralkomitee und im Politbüro begleitete ihn praktisch während seiner gesamten Amtszeit. Umgekehrt misstraute er mindestens ebenso seinen Gesinnungsgenossen, denen er stets mindestens einen Schritt voraus war. Die Liste der unter seiner Ägide gestürzten und verfolgten SED-Mitglieder ist lang; Philatelisten könnten mit Briefmarken der Endlosserie „Persönlichkeiten der deutschen Arbeiterbewegung“ eine Thematik-Sammlung „Ulbricht-Opfer“ anlegen.
Geradezu verhasst war Ulbricht im Volk, nicht erst seit dem Bau der Berliner Mauer. Der Personenkult trug zweifelsohne dazu bei; Straßen, Unternehmen und sogar ein Berliner Sportstadion waren nach Ulbricht benannt. Mit der Zerstörung historischer Bauten, unter anderem der Schlösser in Berlin und Potsdam, der Potsdamer Garnisonkirche und vor allem der Leipziger Universitätskirche wuchs der Widerstand im Volk. In erster Linie zogen aber die wirtschaftlichen Misserfolge die Ablehnung des Regimes nach sich, nicht bloß wegen der Vergleichs mit der blühenden Bundesrepublik. Die Bürger erkannten bestens, dass in der DDR durchaus zeitgemäße Produkte entwickelt wurden und allein das aufgezwungene System den Fortschritt beeinträchtigte oder gar verhinderte. Der Ausbau des Staatssicherheitsdienstes und die spätestens 1952 eingeleitete Wiederbewaffnung fanden auf dem Rücken jener Werktätigen statt, als deren Führung sich Ulbricht und die SED-Kader verstanden.
Das Volk wusste aber, dass die Herrscher Machthaber von Moskaus Gnaden waren. Darüber machte sich in der DDR wohl niemand Illusionen. In Moskau fiel schließlich letztendlich die Entscheidung, Ulbricht durch Honecker zu ersetzen. Formal blieb er bis zu seinem Ableben am 1. August 1973 Vorsitzender des Staatsrates der DDR. Dieser hatte aber nichts mehr zu sagen. Das Ende des Personenkultes um ihn musste Walter Ulbricht noch miterleben. Unter anderem wurde wenige Tage vor seinem Tod das Berliner Walter-Ulbricht-Stadion in Stadion der Weltjugend umbenannt.
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