Kommunistische Sprechblasen weglassen
Walter Ulbricht übte sich in Zurückhaltung. Wie später, als er nur stellvertretender Vorsitzender der SED und stellvertretender Ministerpräsident der DDR wurde, begnügte er sich mit einem Sitz im Geschäftsführenden Ausschuss. An der Spitze, im Präsidium, standen der Schriftsteller Erich Weinert als Präsident und die Generäle Karl Hetz und Heinrich Graf von Einsiedel als seine Stellvertreter. Gemeinsam mit weiteren Kriegsgefangenen und der KPD angehörenden Exilanten versammelten sie sich unter den Farben Schwarz-Weiß-Rot.
Ulbricht und seine Genossen hatten messerscharf erkannt, dass sie mit einem solchen Symbol – das republikanische Schwarz-Rot-Gold war im Militär geradezu verhasst – das Offizierskorps ködern konnten. Zugleich wussten sie genau, wie überlegen sich die Militärführung gegenüber Adolf Hitler fühlten, „dem Gefreiten“, wie er zumindest unter vier Augen genannt wurde, mitunter auch mit Beifügung des Wörtchens „böhmischen“, um Hitlers Migrationshintergrund diskret zu erwähnen. Diese Arroganz machte sich die KPD-Führung zunutze. Die Initiative ging indessen von der Sowjetunion aus, deren Geheimdienst – damals die GRU – alles ebenso fest in der Hand hatte wie später Ulbricht in der Sowjetischen Besatzungszone.
Bereits am 3. April 1942 hatte das Politbüro der KPD auf sowjetischen Wunsch ein Grundsatzpapier zur Schaffung einer Volksfront gegen Hitler verabschiedet. Knapp zwei Monate später fand am 31. Mai die erste Konferenz mit kriegsgefangenen Offizieren statt. Inwiefern deren antifaschistische Bekehrung echt oder erzwungen war, ist historisch umstritten. Wahrscheinlich erklärten verschiedene Faktoren das Handeln der Militärs, wobei die Herablassung gegenüber Hitler in der historischen Debatte möglicherweise zu niedrig bewertet wird. Ein von 23 Offizieren gezeichneter Aufruf ging an alle in der Sowjetunion gefangen gehaltenen Offiziere. Wenig später konstituierte sich ein Ausschuss, dem unter Vorsitz Weinerts Ulbricht, Wilhelm Pieck und Johannes Robert Becher für die KPD sowie Bernt von Kügelgen für die Wehrmacht angehörten.
Knapp ein Jahr später beauftragte die sowjetische Führung Anfang Juni 1943 den Schriftsteller Alfred Kurella und den Journalisten Rudolf Herrnstadt mit der Ausarbeitung eines Manifestes. Stalin höchstselbst ordnete an, alle kommunistischen Sprechblasen wegzulassen und die KPD gar nicht erst zu erwähnen. Um den Offizieren weiter entgegenzukommen, wurde schließlich noch die ursprünglich vorgesehene schwarz-rot-goldene durch die schwarz-weißrote Fahne ersetzt, die Farben des Kaiserreiches.
Die offizielle Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) fand am 12. und 13. Juli 1943 in Krasnogorsk bei Moskau statt. Nach außen hin traten vor allem die Militärs in Erscheinung, real hatten natürlich Ulbricht und Genossen das Sagen. Dies zeigte sich beispielsweise im „Büro des Komitees zur Erledigung der laufenden Arbeiten“, später als „Institut Nr. 99“ bekannt, in dem zahlreiche KPD-Funktionäre arbeiteten. Sie sorgten dafür, dass alle Veröffentlichungen des NKFD der aktuellen politischen Linie des Sowjetführung entsprachen. Wie geschickt sie unterschiedliche Kreise in ihre Arbeit einbanden, zeigte sich in der Gründung eines kirchlichen Arbeitskreises unter Leitung des Divisionspfarrers Friedrich-Wilhelm Krummacher.
Hauptaufgabe des NKFD war die Propaganda über Lautsprecherwagen an den Fronten und über den Rundfunk im Hinterland. Am 8. Dezember 1944 riefen beispielsweise 50 Generäle die deutsche Bevölkerung und die Angehörigen der Wehrmacht zum Sturz Hitlers und zur Beendigung des Krieges auf. General Walther von Seydlitz-Kurzbach sprach ebenso zu den deutschen Soldaten wie Generalfeldmarschall Friedrich Paulus. Tatsächlich gelang es ihnen, zahlreiche Soldaten, darunter auch Offiziere, zur Aufgabe zu bewegen. Zudem setzten NKFD-Vertreter falsche Funksprüche ab und lockten damit deutsche Truppen in den Hinterhalt.
Betrachtet man das Kriegsgeschehen in seiner Gesamtheit, hielt sich die Bedeutung des Nationalkomitees Freies Deutschland aber in Grenzen. Das schienen auch die Führungen der Sowjetunion und später der DDR erkannt zu haben. Vor allem die KPD-Funktionäre um Ulbricht erlangten in der DDR führende Positionen. Die Militärs spielten nur noch untergeordnete Rollen. Für Friedrich Paulus gab es den schönen Titel des Leiters des Kriegsgeschichtlichen Forschungsrates an der Hochschule der Kasernierten Volkspolizei, der Vorgängerin der Nationalen Volksarmee. Bernt von Kügelgen wurde Chefredakteur des „Sonntag“, nachdem sein Vorgänger, Heinz Zöger, und dessen Stellvertreter, Gustav Just, im Zuge der Entmachtung Walter Jankas verhaftet worden war. Walther von Seydlitz-Kurzbach wurde gar 1950 in der Sowjetunion zum Tode verurteilt, dann zu 25 Jahren Lagerhaft „begnadigt“. Nach dem Ende der stalinistischen Terrors kam Seydlitz-Kurzbach 1955 frei und ging in die Bundesrepublik. Das tat auch Heinrich Graf von Einsiedel, der fortan als Publizist arbeitete, ehe er zwischen 1994 und 1998 Bundestagsabgeordneter der PDS wurde.
Karl Hetz kehrte zur Deutschen Reichsbahn zurück und stieg zum Präsidenten der Reichsbahn-Direktion Halle auf. Friedrich-Wilhelm Krummacher wirkte wieder in der Kirche und engagierte sich als Bischof der Pommerschen-Evangelischen Kirche stark für die kirchliche Einheit in Deutschland und für Unabhängigkeit der Kirche in der DDR. Damit zählte er zu den führenden Gegenspielern Ulbrichts, dessen Wirken er in der sowjetischen Kriegsgefangenenschaft gut studiert hatte.
Südosteuropa 2022 (E 8)
ISBN: 978-3-95402-388-2
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