Erstes Massenauto der Geschichte
Die Tin Lizzie sei in jeder Farbe zu haben, „sofern sie schwarz ist“ (as long as it’s black). In der Geschichte des Automobilbaus gehört die Aussage seit Jahrzehnten zu den geflügelten Worten. Historisch ist sie aber nicht ganz korrekt. Zweifelsfrei dominierte in den Anfangstagen des Großserienbaus Schwarz, da die Farbe am schnellsten trocknete und in großen Mengen kostengünstig erhältlich war. Vor 1915 und nach 1925 entstand die Tin Lizzie aber regulär auch in anderen Farben. Zwischen 1915 und 1925 galt eine andere Farbe als Sonderwunsch, die zusätzlich zu bezahlen war – wie auch andere Sonderausstattungen.
Mit dem von József Galamb entwickelten Model T schrieb sich das von Henry Ford gegründete Detroiter Automobilwerk in die Annalen ein. Der ab 1908 gebaute Wagen fiel weder durch besonders fortschrittliche Technik noch durch eine für seine Zeit ungewöhnliche Gestaltung auf. Ford gelang es aber, die Tin Lizzie – Blechliese – zum ersten Massenauto der Geschichte zu machen. Dazu trugen zwei Ideen entscheidend bei.
Zum einen übernahm Ford das System der Fließbandfertigung. Im Automobilbau hatte es Ransom Eli Olds bereits 1902 eingeführt. Ford perfektionierte das System, die Arbeit in einzelne Schritte aufzuteilen. Zudem legte er klare Normen für das Endprodukt fest, wozu nicht nur die Standardfarbe Schwarz gehörte. Er wäre aber ein schlechter Geschäftsmann gewesen, hätte er festgelegt, was seine Kunden gefälligst kaufen sollen.
Zum anderen legte Ford mit einer weitblickenden Entscheidung die Basis für den Wohlstand großer Kreise der Bevölkerung. Er entlohnte seine Arbeiter nämlich deutlich besser als die meisten Industriellen seiner Zeit, zahlte mitunter gar das Doppelte des Üblichen. Sein Ziel ließ sich einfach definieren: Auch die Arbeiter sollten sich einen Ford kaufen können, also Kunden seines Unternehmens werden. Da sich das Konzept als rundum erfolgreich erwies, zugleich die organisierte Arbeiterschaft ihre Macht erkannte, setzte sich Fords Prinzip in der westlichen Welt schnell durch.
Der Erfolg war Henry Ford, geboren am 30. Juli 1863, keineswegs in die Wiege gelegt. Als Sohn irischer Einwanderer genoss er nur eine einfache Grundbildung. Schon in der Jugend zeigte er sich aber technisch höchst interessiert und baute mit 15 Jahren seinen ersten Verbrennungsmotor. In Detroit ließ er sich ab 1879 zum Maschinisten ausbilden und arbeitete im Anschluss daran für die Westinghouse Electric Corporation an Ottomotoren. 1888 heiratete er Clara Jane Bryant, die ein Sägewerk in die Ehe einbrachte. Dennoch widmete sich Ford weiterhin technischen Entwicklungen und trat 1891 in die Edison Illuminating Company ein. Ab 1893 Chefingenieur, arbeitete er privat an Verbrennungsmotoren und baute 1896 sein erstes eigenes Automobil, das Quadricycle.
Zur Fertigung des Wagen gründete Ford 1899 mit Unterstützung weiterer Geldgeber die Detroit Automobile Company. Obgleich das Quadricycle technisch überzeugte und 1901 sogar ein Autorennen gewann, musste das junge Unternehmen bereits kurz darauf Insolvenz anmelden.
Ford gab nicht auf. 1903 trat die nach ihm benannte Ford Motor Company ins Leben, an der neben Ford elf Investoren beteiligt waren. Ein neues Modell verhalf Ford zur Anerkennung nicht nur in der Fachwelt. Benannt war es bezeichnenderweise nach einer Dampflokomotive, der 999, damals das schnellste Dampfross in den Vereinigten Staaten.
Mit dem bis 1927 produzierten Model T gelang Ford dann der Durchbruch. Nicht weniger als 15 Millionen Exemplare entstanden. Zum Schluss zögerte Ford aber fast zu lange, ehe er mit dem ab 1926 gebauten Model A gerade noch die Kurve kriegte. Die Tin Lizzie war zu dem Zeitpunkt technisch längst überholt, die Verkaufszahlen eingebrochen. Henry Fords Sohn Edsel, formal seit 1919 Vorstandsvorsitzender des Unternehmens, hatte bereits Anfang der zwanziger Jahre gewarnt und wenigstens die Überarbeitung des Model T angemahnt. Doch vergeblich. Immerhin erwies sich auch das Model A als Erfolg. Bis 1931 rollten mehr als vier Millionen Wagen vom Band, trotz der Wirtschaftskrise.
Zu dem Zeitpunkt widmete sich Henry Ford längst anderen Interessen. Wirtschaftlichen Schiffbruch erlitt er mit einer brasilianischen Kautschuk-Plantage, die den Rohstoff für die Reifen der Automobile liefern sollte. Eine Pflanzenkrankheit zerstörte Fords Pläne. Sein Image als Vordenker nahm erheblichen Schaden durch antisemitische Publikationen in den zwanziger Jahren. Eine von ihm gegründete Zeitung druckte unter anderem die so genannten „Protokolle der Weisen von Zion“, ein von ihm herausgegebenes Buch verbreitete hanebüchene Verschwörungstheorien.
1943 übernahm Henry Ford noch einmal den Vorstandsvorsitz seines Unternehmens, nachdem sein Sohn verstorben war. Zu der Zeit arbeitete die Ford Motor Company stark defizitär, war aber für die Rüstungsproduktion unentbehrlich. Der Umschwung gelang erst Henry Ford II, der das Unternehmen ab 1945 führte. Dessen Gründer verstarb am 7. April 1947.
Benelux 2021/2022 (E12)
ISBN: 978-3-95402-362-2
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