„Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft“
Als „bürgerlichen Revolutionär“ definierten wir jüngst Karl Marx und erinnerten daran, dass auch die Begründer der Sozialdemokratie überwiegend aus dem Bürgertum stammten. Einer von ihnen verdiente sogar über Jahre hinweg gleich Friedrich Engels seinen Lebensunterhalt als Fabrikant. Er bewohnte großzügige Räumlichkeiten im ersten Stock einer Villa im heutigen Dresdner Stadtteil Plauen und zog später in den gutbürgerlichen Berliner Westen, nach Schöneberg. Die Arbeiterklasse kannte er aber aus eigener Erfahrung in jungen Jahren, war also keineswegs Theoretiker. Folglich verband er eine gemäßigt-radikale Rhetorik mit konsequent-parlamentarischer Arbeit.
Am 22. Februar 1840 in Deutz bei Köln geboren, wuchs Ferdinand August Bebel in der Familie eines Unteroffiziers auf. Bereits 1844 verlor er seinen Vater. Die Mutter heiratete erneut, doch starb auch der Stiefvater schnell. 1853 war Bebel dann Vollwaise. Seinen Traum, Bergbau zu studieren, konnte er nicht finanzieren, erlernte daher das Drechslerhandwerk und ging als Geselle auf die Walz. Um Arbeit zu finden, gelangte er 1860 nach Sachsen, damals eines der Zentren der deutschen Industrie. Während all der Jahre nutzte er jede Möglichkeit, sich fortzubilden und gehörte, selbst Lutheraner, dem katholischen Gesellenverein an.
In Leipzig fand Bebel nicht nur Arbeit, sondern begann auch, sich politisch zu engagieren. Er zählte zu den ersten Mitgliedern des 1861 gegründeten Gewerblichen Bildungsvereins und strebte, seinerzeit in allen Schichten selbstverständlich, den Aufstieg an. Bereits 1862 saß Bebel im Vorstand des Bildungsvereins und leitete die Vereinsbibliothek und die Abteilung für Vergnügungen. 1863 gehörte er zu den Delegierten des Vereinstags Deutscher Arbeitervereine in Frankfurt am Main, eines liberalen Zusammenschlusses. Ferdinand Lassalles Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) sah Bebel kritisch, da er glaubte, die Arbeiterklasse sei für das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht noch nicht reif genug.
Doch er las Lassalles Schriften, und diese führten ihn zu Marx und Engels. Schritt für Schritt erkannte er, dass der Liberalismus keine Antworten auf die soziale Frage gab. Gestärkt wurde Bebel in seinen Überzeugungen durch Wilhelm Liebknecht, mit dem ihn eine Freundschaft bis zu Liebknechts Ableben 1900 verbinden sollte. Beide gründeten 1866 die radikaldemokratische Sächsische Volkspartei. Im Dachverband der liberalen Arbeitervereine konnte Bebel 1867 den Vorsitz erringen. Unter seiner Ägide trat der Verband der Ersten Internationale bei, unter seiner Ägide verließen die liberalen und konservativen Vertreter den Verband. Zugleich wechselten zahlreiche Mitglieder des ADAV zu Bebels Verein, da sie mit dem Führungsstil des Nachfolgers Lassalles, Johann Baptist von Schweitzer, nicht einverstanden waren. Für die Sächsische Volkspartei zog Bebel am 12. Februar 1867 in den konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes ein.
Am 8. August 1869 erfolgte schließlich in Eisenach der Zusammenschluss der Sächsischen Volkspartei und des nunmehr nicht mehr ganz so liberalen Arbeitervereins zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Diese strebte unter anderem die Ablösung des kapitalistischen Eigentums durch Genossenschaften an, stand also politisch den Lassalleanern, aber auch Liberalen wie Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen gar nicht so fern, wie es die nicht selten brachiale Rhetorik vermuten ließ. Zur Arbeiterklasse zählte Bebel auch untere Beamte, Kleinbauern, Kleinhandwerker und andere Vertreter der Unterschicht, letzten Endes also die Mehrheit der Bevölkerung. Schließlich erhob Bebel weitgehende Forderungen zur Gleichstellung von Frau und Mann. Indessen fand Bismarck in der Agitation den Anlass, die Sozialdemokraten als gefährliche Revolutionäre zu brandmarken und schließlich zu verfolgen.
Bebels Sozialdemokratische Arbeiterpartei schloss sich 1875 mit dem ADAV zusammen. Das eher gemäßigte Gothaer Programm stieß auf harsche Kritik Marxens und Engels‘, ihre Polemik dagegen gehörte später zum ideologischen Rüstzeug der Diktatoren in den sich „sozialistisch“ nennenden Staaten. Der Erfolg gab Bebel und seinen Parteifreunden recht. Trotz staatlicher Repressionen, die im zwischen 1878 und 1890 geltenden Verbot der Partei, zahlreicher Gewerkschaften und sozialdemokratischer Zeitungen ihren Höhepunkt fand, konnte die Sozialdemokratie ihre Position in der Arbeiterschaft behaupten und ausbauen. Zugleich gelang es Bebel, jene Stimmen zu neutralisieren, die mit Gewalt auf die staatlichen Maßnahmen reagieren wollten. Als fast immer wiedergewählter Abgeordneter des Deutschen Reichstages – nur wenige Monate gehörte er zwischen 1881 und 1883 der Zweiten Kammer des Sächsischen Landtages an, nachdem er bei den Reichstags-Wahlen 1881 kein Bündnis mit der Partei Adolf Stoeckers eingehen wollte – führte Bebel die Partei in der Illegalität. 1890 musste Bismarck einsehen, dass sein Versuch, die Sozialdemokratie zu zerstören, gescheitert war. Nunmehr wieder zugelassen, konnte die Partei die Zahl ihrer Mitglieder deutlich erhöhen und stetig neue Wähler gewinnen.
Bebel war fortan unangefochtener Chef der Partei, nahm auch während der schon damals üblichen innerparteilichen Debatten keinen Schaden. Heftige Wortgefechte lieferte er sich sowohl mit den Vertretern radikalen Strömungen, die parlamentarische Arbeit als sinnlos erachteten, als auch mit strikten Reformern, die schnelle soziale Verbesserungen für die Arbeiterklasse anstrebten. Vehement lehnte er Überlegungen ab, mit Massenstreiks eine Revolution herbeizuführen, wie sie nach der russischen Revolution von 1905 unter anderem Rosa Luxemburg vortrug. Rhetorisch blieb Bebel indessen den Parolen vom Klassenkampf, vom bevorstehenden Sieg des Sozialismus und vom baldigen Kladderadatsch treu. „Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben, um sie in ihren Existenzbedingungen zu untergraben und sie, wenn ich kann, zu beseitigen“, erklärte er auf dem Dresdner Parteitag von 1903. „Solange ich atmen und schreiben und sprechen kann, soll es nicht anders werden.“
Bis zu seinem Tod am 13. August 1913 gehörte August Bebel dem Deutschen Reichstag an. Stets betrat er das Parlament, dessen Befugnisse weitaus geringer waren als die Möglichkeiten des Deutschen Bundestages heute, in Feiertagskleidung. Damit drückte er die herausragende Stellung aus, die seiner Meinung nach Abgeordnete als die Besten des Volkes einnehmen sollten. Ein durch und durch bürgerliches Verhalten.
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