Schlimmste politische Straftat: liberales Denken
Ökonom oder Politiker? Vordenker der deutschen Einheit oder nur der deutschen Eisenbahn? Visionär oder Pragmatiker? Friedrich List lässt sich kaum einordnen, schon gar nicht in die altbekannten Schemata. Er blickte weit über den Horizont seiner Zeit heraus. Dies bereitete ihm natürlich große Probleme, beispielsweise als er ein deutsches Eisenbahnnetz skizzierte und dabei souverän die Grenzen der Nationalstaaten ignorierte. Dennoch sollte man sich hüten, ihn im Elfenbeinturm zu verorten, denn seine Arbeiten hatten Hand und Fuß und vermögen in fast allen Bereichen auch heute noch zu überzeugen.
Seine ersten Schritte ging er in der öffentlichen Verwaltung. Schnell stieg er in seiner Heimatstadt Reutlingen auf – dort wurde er vor 225 Jahren am 6. August 1789 getauft; sein genaues Geburtsdatum ist unbekannt. 1811 wechselte er in das Oberamt Tübingen. An der Tübinger Universität besuchte er unter anderem Vorlesungen in Recht und Finanzwirtschaft und übernahm 1816 eine Position im Stuttgarter Finanzministerium. Dort organisierte er eine Umfrage unter Auswanderern. Mit der Befragung wollte die württembergische Regierung ermitteln, mit welchen Gegenmaßnahmen sie die wachsende Emigration einschränken könne. Parallel entwickelte er ein Konzept zur Reform der Beamtenausbildung, das stark auf seinen Erfahrungen aus der Verwaltungspraxis beruhte. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand die Etablierung einer staatswissenschaftlichen Fakultät.
Die Regierung folgte ihm und berief ihn zum Professor für Staatsverwaltungswissenschaften. Das rief den Widerstand der Professorenschaft wach, denn List konnte keinerlei Studienabschluss vorweisen, schon gar keinen höheren. Dass List zudem publizistisch in Erscheinung trat, weckte den Argwohn der Regierung. Sie verdächtigte ihn der seinerzeit wohl schlimmsten politischen Straftat, des liberalen Denkens. Nicht ganz zu Unrecht, wie man festhalten muss.
1819 hatte er in Frankfurt am Main maßgeblich zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Handels- und Gewerbevereines beigetragen. Dieses Engagements wegen legte er seinen Lehrstuhl nieder, ehe ihn die Regierung abberufen konnte. Seine erste Wahl in den württembergischen Landtag, 1819, war ungültig, da List noch nicht das 30. Lebensjahr vollendet hatte. Im Folgejahr zog er dann in die Versammlung ein und positionierte sich eindeutig auf Seiten der Liberalen. Sein Eintreten für Freihandel, Demokratie und kommunale Selbstverwaltung führte 1821 zum Mandatsentzug nach einem Votum der Landtagsabgeordneten. 1822 wurde er dann für seine Ansichten zu zehn Monaten Festungshaft verurteilt.
Nach Verbüßung von fünf Monaten erklärte er sich zur Auswanderung in die Vereinigten Staaten bereit. Dort betätigte er sich zunächst als Farmer, später dann als Mitinhaber eines Bergwerks und kam zu Wohlstand. Zweifelsfrei hatte er unter Beweis gestellt, pragmatisch und erfolgreich handeln zu können.
Die im Alltag gesammelten Erfahrungen verwertete er auch theoretisch. Vom Konzept des totalen Freihandels wandte er sich ab und trat nunmehr für die Erhebung von Schutzzöllen für ausgewählte Waren aus Großbritannien ein. 1830 wurde List amerikanischer Staatsbürger.
In Deutschland trat er derweil publizistisch in Erscheinung und veröffentlichte die „Mittheilungen aus America“. Darin berichtete er auch erstmals über die Eisenbahn. Als er 1834 amerikanischer Konsul in Sachsen wurde, hatte er seine bedeutendste Schrift zu dem Thema bereits vorgelegt: „Über ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-Systems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden“, erschienen 1833. Darin skizzierte er ein Eisenbahnnetz mit Liniensternen in Leipzig, Berlin und Hannover. Größere Verzweigungen sah er in Hamburg, Magdeburg, Hersfeld, Karlsruhe und Augsburg vor.
Sämtliche von List skizzierten Strecken wurden in den frühen Jahren der Eisenbahn erbaut, teils von den Staaten, teils von Privatunternehmen. Besser lässt sich Lists Realitätssinn kaum dokumentieren. List selbst fand aber nur ideelle Anerkennung für sein Engagement. Mit seinem über die Grenzen Sachsens und anderer deutscher Staaten hinausreichenden Denken verschreckte er die Honoratioren, die seine Ausarbeitungen zwar gern entgegennahmen und ihm auch die eine oder andere Auszeichnung verliehen, ansonsten aber keinen Platz für ihn fanden. Einen Platz brauchte er aber, denn seine amerikanischen Unternehmensbeteiligungen warfen immer weniger Ertrag ab. Im Zuge der Finanzkrise von 1837 sollte er sein Vermögen sogar weitgehend verlieren.
Da Württemberg seine Begnadigung ablehnte, er in Sachsen oder anderswo in Deutschland aber auch nicht Fuß fassen konnte, ging er nach Paris. Dort trat er die Stelle des Korrespondenten der „Allgemeinen Zeitung“ an und verfasste allgemeine Schriften zur Volkswirtschaft. 1840 kehrte er nach Deutschland zurück und fand in Augsburg eine neue Heimat.
Sein Hauptwerk, „Das nationale System der politischen Ökonomie“ erschien 1841. Darin führte er seine in den Vereinigten Staaten entwickelten Gedanken zu moderaten Schutzzöllen fort, die den Aufbau der Industrie begleiten sollten, bis ein Freihandel möglich war. Die klassische Volkswirtschaftslehre des Adam Smith erweiterte er, indem er nicht nur Produktion und Handel analysierte, sondern auch politische und soziale Faktoren berücksichtigte. Für die weitere positive wirtschaftliche Entwicklung schien ihm die Bildung des deutschen Nationalstaates unabdingbar. Als Vorläufer betrachtete er den deutschen Zollverein. Allerdings fanden auch im Zollverein mehr und mehr die Befürworter des Freihandels Gehör.
Rastlos tätig, veröffentlichte List eine Reihe wirtschaftlicher Schriften. Der „Zollvereinszeitung“ diente er als Herausgeber. Zudem warb er auf Reisen in Deutschland und Österreich–Ungarn für sein Anliegen, versuchte sogar die belgische Regierung von den Vorteilen eines Vertragsschlusses mit dem Zollverein zu überzeugen. Zustimmung fand er aber immer weniger, und auch wirtschaftlich ging es nach der Einstellung der „Zollvereinszeitung“ wieder bergab – der Versuch, sie in Eigenregie fortzuführen, scheiterte schnell.
Zutiefst verbittert sah Friedrich List keinen anderen Ausweg mehr als den Suizid. Am 30. November 1846 erschoss er sich in Kufstein. Erst die Nachgeborenen erkannten seinen Rang in der Geschichte. Interessanterweise würdigten ihn nach 1945 beide deutschen Staaten gleichermaßen. In der DDR betonte man zwar vor allem sein Engagement im Verkehrswesen. Seine liberalen und marktwirtschaftlichen Thesen fielen aber keineswegs unter den Tisch. Seltener wurde sein Einsatz für die deutsche Einheit erwähnt. In der Bundesrepublik ehrten ihn vor allem Reutlingen, Tübingen und Baden-Württemberg. Auch dort stand sein verkehrspolitisches Wirken im Vordergrund, gefolgt von den nationalstaatlichen Gedanken. Sein wirtschaftliches Werk betrachteten eine Zeitlang nur Fachleute und Historiker. Seine Vorstellungen insbesondere in der Schutzzollfrage spiegelten das Denken, das heute in den weniger entwickelten Ländern vorherrscht. Entwickelt hatte er sie, als auch Deutschland noch zu den weniger entwickelten Ländern gehörte.
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