Viel zitiert, aber weniger gelesen
Nachdem er sich einer Darmoperation unterzogen hatte, verstarb der irische Schriftsteller James Joyce vor genau 75 Jahren am 13. Januar 1941 im Zürcher Rotkreuzspital. Seine Ehefrau, Nora Barnacle, wandte sich mit der Bitte an die irische Regierung, den Leichnam nach Irland zu überführen. Doch ihr Ersuchen wurde abgelehnt, nicht aus Kostengründen, sondern wegen fehlender literarischer Bedeutung für das nationale Kulturerbe. Das Hauptwerk von Joyce, der „Ulysses“, war noch im November 1961 in Irland verboten. Einige Passagen wurden als obszön empfunden. Auch die Romanverfilmung von Joseph Strick aus dem Jahre 1967 war seit ihrer Entstehung im Inselstaat verboten. Sie gelangte erst im Jahr 2000 in die irischen Kinos.
In der Tat war die Verbindung zwischen Joyce und Dublin recht gespalten. Seine poetische Energie speise sich „aus der Hassliebe zu seiner Heimatstadt und ihren Menschen“ schrieb ein Kritiker der Neuen Züricher Zeitung. Ähnliches bestätigt der Autor und Irland Korrespondent Ralf Sotscheck: „Die Beziehung zwischen James Joyce und seiner Heimat Irland war schon immer getrübt. Der Schriftsteller war der geistigen Enge der Grünen Insel früh entflohen und schrieb aus dem Ausland Gehässiges über die Bewohner seiner Heimatstadt Dublin.“
Als Kind musste James mit seiner Familie häufig umziehen, da sein Vater nicht mit Geld umgehen konnte. Bereits mit 22 Jahren verließ Joyce Dublin, gemeinsam mit seiner Freundin und späteren Ehefrau Nora. Später kehrten sie nur für kurze Aufenthalte zurück. Über Zürich und Triest landete das Paar in der Küstenstadt Pula im heutigen Kroatien, wo Joyce Marineoffizieren Sprachunterricht erteilte. Nach einem Jahr zogen James und Nora nach Triest. Mit Unterbrechungen lebten sie dort rund zehn Jahre. Weitere Lebensstationen waren Zürich und Paris.
James Joyce unterrichtete an einer Sprachschule. Von seiner schriftstellerischen Arbeit konnte er meist nicht leben. Glücklicherweise hatte er einige Mäzene, die ihn unterstützten. 1914 erschien der Erzählband „Die Dubliner“, er enthält 15 Kurzgeschichten, die zwischen 1904 und 1907 entstanden waren. 1916 folgte der autobiographisch geprägte Kurzroman „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“. Der Roman diente stilistisch als Vorbereitung für das Hauptwerk „Ulysses“. Erstmals setzte Joyce die Erzähltechnik Bewusstseinsstrom ein. Dieses literarische Verfahren spiegelt scheinbar ungeordnet Bewusstseinsinhalte der Protagonisten. Schriftsteller verfolgen dabei die Absicht, ihren Lesern die Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle ihrer Erzählfiguren subjektiv so wiederzugeben, wie sie in deren menschliches Bewusstsein fließen. Diese sprunghafte, eruptive Erzählweise mit nur wenigen Satzzeichen bewirkt, dass die Werke für ungeübte Leser schwer konsumierbar werden. Der Berliner Journalist Markus Lippold nennt „Ulysses“ daher ein Meisterwerk und ordnet es ein, als eines der vermutlich „bekanntesten ungelesenen Büchern aller Zeiten.“ Und das Magazin „Spiegel“ bezeichnet Joyce als großen Anreger, der viel zitiert aber weniger gelesen werde.
Der labyrinthisch konstruierte Roman „Ulysses“ umfasst von seiner Handlung nur einen Tag im Leben des Tageszeitungs-Anzeigenakquisiteurs Leopold Bloom, seiner ihn betrügenden Ehefrau Molly und des jungen Künstlers Dedalus, der Bloom während des Tages mehrmals begegnet. Joyce schildert auf rund 1000 Seiten, was seiner Hauptfigur Bloom am 16. Juni 1904 widerfährt, oder genauer gesagt, durch den Kopf geht.
Inzwischen haben die Iren ihre eingangs geschilderte starre Haltung gelockert und ihren ehemals verfemten Schriftsteller für die Fremdenverkehrswerbung entdeckt. Davy Burnes Irish Pub, die bekannte Kneipe in der Duke Street im Zentrum Dublins, ist durch „Ulysses“ unsterblich geworden. Dort nahm Bloom bei seinen Gängen durch die Stadt sein Mittagessen ein: ein Glas Burgunder und ein Gorgonzola-Sandwich.
Am 16. Juni 1954 versammelte sich eine kleine Gruppe von Schriftstellern und beging Joyce zu Ehre den ersten offiziellen Bloomsday. Diese Tradition hat sich fortgesetzt und kommerzialisiert. Dublin hat „Ulysses“ für seinen Stadt-Tourismus entdeckt und vereinnahmt: An vielen Stellen wurden Bronzeplatten in den Straßenbelag eingelassen, die auf Plätze des Romans verweisen. Überall in der Stadt finden sich Schilder, die Auskunft darüber geben, welche Szene aus „Ulysses“ sich an diesem Ort zugetragen hat. Am „Bloomsday“ werden geführte Wanderungen auf den Spuren der Ulysses-Helden angeboten.
James Joyce ist es als weltweit einzigem Schriftsteller gelungen, einen Feiertag zu initiieren, der einem Roman gewidmet ist.
Leserbriefe
ISBN: 978-3-95402-267-0
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