Dokumente aus den faschistischen Lagern
Es gibt Bücher, die liest man praktisch zweimal. Einmal den Fließtext mitsamt den Bildunterschriften, dann aber auch die Texte auf den abgebildeten Karten, sofern die Handschrift dies zulässt und die eigenen Sprachkenntnisse ausreichen. Wegen Letzterer braucht sich aber niemand Sorgen zu machen, denn alle wichtigen Texte der Karten erscheinen in Hanspeter Frechs Monumentalwerk übersetzt. Da Frech auch vielfach die Handschriften transkribiert hat, stellt das Buch eine gelungene Darstellung erzählter Geschichte der Zeitgenossen dar, eingebettet in Darstellungen, die auf wissenschaftlichen Studien, aber auch heimatkundlichen Veröffentlichungen beruhen – das Literaturverzeichnis umfasst 19 Seiten. Selbst wer zu der Epoche schon manches Buch der Geschichtsprofessoren gelesen hat, lernt mit Frechs Veröffentlichung auf jeder Seite hinzu. Die Lebensbedingungen der Opfer des Faschismus kann man anhand ihrer Schilderungen sehr viel besser nachvollziehen als anhand statistischer Angaben oder amtlicher Dokumente.
Allein zwischen 1940 und 1943 übergaben Zwangs- und Fremdarbeiter sowie Kriegsgefangene der Reichspost 1,02 Milliarden Sendungen. Am gesamten Aufkommen von 63,5 Milliarden Poststücken erreichten sie zwar nur einen kleinen Anteil, doch gilt es zu berücksichtigen, dass Privatpost schon immer hinter der Geschäfts- und Behördenpost zurücktrat, der Anteil an der gesamten Privatpost also deutlich höher ausfiel als am Gesamtvolumen.
Würde zurückgeben
Die Zahl der rund 30 000 Firmenarbeiterlager belegt, in welch gigantischem Ausmaß das Regime die Arbeitsleistung seiner Gegner und der Bevölkerung der überfallenen Länder ausnutzte. Der Horror, den die Opfer erlebten, erscheint auf den Poststücken selbstredend vor allem zwischen den Zeilen, mussten die Absender doch stets die Zensur berücksichtigen. Frechs Buch erzählt die Geschichte in ihrer Gesamtheit, orientiert an den Opfern des Grauens, ohne Strukturen und andere Aspekte der Täterperspektive aus den Augen zu verlieren. Indem er den Opfern seine Stimme leiht, gibt er ihnen die Würde zurück. Waren seinerzeit die Täter und ihre willigen Gehilfen stärker, blieben langfristig doch die Zwangs- und Fremdarbeiter sowie Kriegsgefangenen die Sieger der Geschichte.
Sinnlosigkeit des Denkens und Handelns
Doch rückt Frech auch jene Lager ins Licht, die heute vielfach vergessen sind, beispielsweise die Lager, die der Ausbildung der Hitler-Jugend dienten, die Wehrertüchtigungslager oder die Lager, in denen sogenannte Volksdeutsche die erste Zeit nach der Übersiedlung ins Reich verbrachten. Lager bestanden auch für den Reichsarbeitsdienst und den Bau der Reichsautobahnen. Zu Recht empfahl Frech einen besonderen Blick in das Kapitel der Kinderlandverschickung, eine besondere Form der Grausamkeit gegen das eigene Volk. Für oftmals lange Zeit wurden Kinder und Jugendliche von ihren Familien getrennt, um sie im Sinne der faschistischen Ideologie und der Wehrertüchtigung auszubilden. Dem Rezensenten kamen natürlich sofort Wolfgang?Jakubeks Erinnerungen „Thema 3. Reich“ und die autobiografischen Bücher Ludwig Harigs in den Sinn, welche die Aussagen der wissenschaftlichen Literatur anschaulich unterstreichen. Die Sinnlosigkeit des faschistischen Denkens und Handelns spiegelt nichts besser als das „Unternehmen Barthold“, eine ab Herbst 1944 in etwa entlang der deutsch-polnischen Vorkriegsgrenze – die vom Reich getrennten Gebiete West- und Ostpreußen jetzt nicht berücksichtigt – geschaffene Befestigung, die den Vormarsch der Roten Armee aufhalten sollte.
Bewusst konzentrierte sich Frech auf Ganzsachen-Postkarten, zum einen, weil er ein Buch zur Social Philately vorlegen wollte, zum anderen, weil das Thema ansonsten ausgeufert wäre. Eine umfassende Dokumentation aller während der zwölf Jahre bestehenden Lager strebte er nicht an, auch wollte er weder die Geschichte noch die Postgeschichte der Lager einzelner Gemeinden vorlegen. Nichtsdestoweniger finden Heimatforscher in dem Band reichlich Material für weitere Untersuchungen – das vierseitige Ortsregister reicht von Ahlen in Westfalen bis Zwickau. Mit dem Buch legte Hanspeter Frech eine Studie vor, die weit über die Philatelie hinausragt und zur weiteren Beschäftigung mit der Geschichte der Lager anregt. Jede Seite liest man mit Gewinn, die Schilderungen fesseln auch jene, die professionell aktuelle Fachliteratur auswerten. Mit Fug und Recht darf man von einem neuen Standardwerk sprechen.
Postkarten 1933–1945 aus oder zu NS-Lagern aller Art im damaligen Rahmen der allgemeinen Postversorgung. Von Hanspeter Frech. 468 Seiten, über 1250 Farbabbildungen, Format DIN A4, gebunden mit Festeinband. Preis: 69 Euro plus Versandkosten. Erhältlich bei Hanspeter Frech, Am Hinterhof 30, 77756 Hausach, HPFrech@web.de.
Ganzsachen Deutschland 2021/2022
ISBN: 978-3-95402-374-5
Preis: 98,00 €
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