Strahlung aus dem All
Als „Höhenstrahlung“ bezeichnete Victor Franz Hess zunächst die energiereiche Teilchenstrahlung, die aus dem Weltraum in die äußere Gasumhüllung der Erde einschlägt und von der Sonne, aus der Milchstraße und aus anderen Galaxien stammt. Aus der kosmischen Strahlung resultiert eine Sekundärstrahlung, die auf der Erde messbar ist.
Heute vor 100 Jahren nahm Hess seine entscheidende Messung vor – in mehr als 5000 Metern Höhe. Ähnliche Ergebnisse hatte indessen bereits vier Jahre zuvor ein Braunschweiger Studienrat erzielt.
1908 registrierte Karl Friedrich August Bergwitz während des Aufstiegs mit einem Heißluftballon, dass die Ionisierung der Luft mit zunehmender Höhe erst abnahm, dann aber wieder zunahm. Ersteres ließ sich problemlos mit der Erdstrahlung erklären; bereits 1896 hatte Antoine Henri Becquerel die Radioaktivität entdeckt. Die mit zunehmender Höhe wachsende Luftionisation stellte Bergwitz dagegen vor ein Rätsel. Auch eingedenk der Mahnung eines Kollegen, sich nicht wissenschaftlich unmöglich zu machen, führte der Studienrat die Messergebnisse auf einen Defekt der Instrumente zurück.
Glücklicherweise stand er mit Hess in Kontakt. Während mehrerer Ballonaufstiege gelangen Hess ähnliche Messungen, wie sie zuvor Bergwitz erzielt hatte. Die Kaiserliche Akademie ermöglichte Hess weitere Fahrten, auf denen er die Messergebnisse wiederholen konnte. Am 7. August 1912 stieg Hess mit einem Heißluftballon zur neunten Fahrt auf. Über dem Schwielochsee erreichte der Ballon 5350 Meter über Normalnull. Die Messergebnisse waren eindeutig. Noch 1912 publizierte Hess seine Erkenntnisse in der „Physikalischen Zeitschrift“.
Doch wie ließen sich die Messergebnisse erklären? Die Erdstrahlung musste mit zunehmender Höhe abnehmen, das stand fest. Also bedurfte es einer anderen Quelle für die gemessene Strahlung. Da eine Fahrt nachts und eine weitere während einer Sonnenfinsternis stattfand, schloss Hess die Sonne aus – irrtümlich, wie wir heute wissen. Den Ballon hatte er genauestens auf radioaktive Kontamination untersucht. Also blieb nur das All übrig. Dennoch handelte es sich um eine reichlich gewagte Hypothese, musste Hess doch einräumen, dass die seinerzeit verfügbaren Messinstrumente noch recht ungenau waren und selbst 5350 Meter über Normalnull keine allzu große Höhe darstellten.
Weiter in Richtung All wagte sich Werner Kolhörster vor. Mit einer Sauerstoffmaske ausgestattet, erreichte er 9000 Meter Seehöhe. Daher bestätigte er nicht nur die Ergebnisse von Hess, sondern legte auch zusätzliche Daten aus größeren Höhen vor. 1929 schrieb er sich ein weiteres Mal in die Annalen ein, als er den Beweis erbrachte, dass die Strahlung größtenteils aus Atomkernen bestand. Das Schicksal wollte es, dass Kolhörsters Leistungen weitgehend in Vergessenheit gerieten. Hess bekam für seine Entdeckung und Erklärung 1936 den Nobelpreis für Physik zugesprochen – gemeinsam mit Carl David Anderson, dem Entdecker des Positrons. Physiker sprechen heute von den „Hess-Bergwitzschen Strahlen“.
1938 präsentierte der Physiker Pierre Victor Auger dann die bis heute gültige Erklärung, dass die Messergebnisse die Sekundärstrahlung wiedergeben. Die kosmische Strahlung schlägt in die Atmosphäre ein. Die auf der Erde messbare Strahlung ist das Ergebnis von Reaktionen, die in der Atmosphäre stattgefunden haben. Die Luft bremst nämlich die kosmischen Teilchen gewaltig; ein ähnliches Phänomen kennen wir heute vom Wiedereintritt eines Raumfahrzeuges in die Atmosphäre. Der dabei entstehende Regen aus Elektronen und Positronen setzt gewaltige Mengen an geladenen Teilchen frei, die in tiefere Luftschichten gelangen können.
Dank immer besser werdender Instrumente, dank der Satellitentechnik und anderer Entwicklungen können die Physiker heute höchst präzise Messungen der kosmischen Strahlung und der aus ihr resultierenden Sekundärstrahlung vornehmen. Doch gilt es noch so manches Rätsel zu lösen. Beispielsweise entdeckten die Wissenschaftler Teilchen mit bislang unerklärlich hoher Energie. Auch wissen die Forscher nur sehr wenig über die Herkunft der aus dem All kommenden Teilchen, die mutmaßlich über Millionen von Jahren hinweg durch den Raum irrten, ehe sie zufällig auf der Erde einschlugen. Noch Generationen von Physikern werden sich mit den von Bergwitz, Hess und Kolhörster gewonnenen Erkenntnissen befassen können. Wahrscheinich wird die Menschheit sogar nie dem Kosmos seine letzten Geheimnisse entlocken können.
Victor Franz Hess musste zwei Jahre nach der Entgegennahme des Nobelpreises seine Heimat verlassen. Als engagierter NS-Gegner verlor er nach dem deutschen Einmarsch in Österreich seine Stelle und war kurze Zeit inhaftiert. Zusammen mit seiner jüdischen Gemahlin emigrierte er in die Vereinigten Staaten, deren Staatsbürgerschaft er 1944 annahm.
Leserbriefe
ISBN: 978-3-95402-267-0
Preis: 29,80 €
Versandkostenfreie Lieferung innerhalb Deutschlands.
Jetzt bestellen