Ein Dichter, 70 Autoren
Fernando Pessoa lässt staunen. Dass Autoren Kraft ihrer Fantasie diverse Persönlichkeiten und Charaktere zum Leben erwecken, ist wahrlich nichts besonderes und macht fiktive Literatur letztlich aus. Dass aber ein Autor selbst verschiedenste Autoren erfindet, ihnen eine Lebensgeschichte zudenkt, einen eigenen Schreibstil, eigene Themen, ja förmlich eine eigene Persönlichkeit, das ist ungewöhnlich.
Der heute vor 125 Jahren in Lissabon geborene Pessoa bezeichnete diese Autoren-Persönlichkeiten als Heteronyme. Um die 70 verschiedene davon soll er geschaffen haben. Die bedeutendsten waren Alberto Caeiro, Álvaro de Campos und Ricardo Reis. Etwas komplizierter verhält es sich mit Bernardo Soares. Ihn bezeichnete Pessoa als Halb-Heteronym, wohl aus dem Grund, weil er sich selbst an dessen Werken beteiligt sah. Doch Moment, sollte man nicht annehmen, dass Pessoa an allen seinen erdachten Persönlichkeiten als ihr Schöpfer Anteil hatte?
Beabsichtigte er, seine Leser zu einem genial durchdachten Spiel einzuladen? Oder war der Autor verrückt? Anzunehmen ist, dass die poetologische Persönlichkeitsspaltung, die er vollzog, wohldurchdacht war und keiner Persönlichkeitsstörung geschuldet war. Dafür spricht, dass er ausführlich beschrieb, wie der Schöpfungsprozess vonstatten ging. Er behielt also stets die Kontrolle über seine erdachten Autoren und war ihnen keineswegs ausgeliefert. „Ich vervielfache mich, um mich zu fühlen“, soll er einmal gesagt haben.
Wie auch immer, dass die Texte Pessoas und die seiner zahlreichen Heteronyme über alle Maßen lesenswert sind, dürfte außer Frage stehen. Sie überraschen durch enorme Vielfalt, Wandelbarkeit aber auch Widersprüchlichkeit. Mit seinem Werk begründete er die moderne Dichtung Portugals und beeinflusste maßgeblich die zeitgenössische Dichtung überhaupt. Zu Lebzeiten aber war er weitgehend unbekannt. Sein früher Tod 1935 im Alter von 47 Jahren ist wohl auf übermäßigen Alkoholkonsum zurückzuführen. Er hinterließ rund 24.000 Fragmente, die bis zum heutigen Tag nicht vollständig veröffentlicht sind.
Großbritannien-Spezial 2016/2017
ISBN: 978-3-95402-165-9
Preis: 89,00 €
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