Ein sensibler Realist
In lyrisch-feinfühliger Weise handeln die Romane, Erzählungen und Gedichte Iwan Sergejewitsch Turgenews vom wirklichen Leben der Menschen. Weniger politisch-analytisch als im Eingehen auf ihre Menschlichkeit, ihre Empfindsamkeit und Leidensfähigkeit. Sie erzählen nichtsdestotrotz im Besonderen von den Nöten derer in der zaristischen russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die in Unfreiheit und Armut unter den adeligen Besitzenden des Landes litten. Und dabei auch von gesellschaftlichen Entwicklungen, kritischen Regungen und Wünschen nach Veränderung, die diesen Verhältnissen entwuchsen. Geboren wurde Iwan Turgenew, der neben Fjodor Dostojewski und Lew Tolstoi prominenteste Schriftsteller eines „Russischen Realismus“, am 9. November 1818. Privater Unterricht als Junge, ein Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft in Moskau und St. Petersburg, dabei Auslandsaufenthalte – Iwan Turgenew kam aus einem privilegierten Elternhaus. Aber über diese Herkunft wuchs er hinaus.
Er hatte kein Interesse an einer Gutsherrenexistenz. Die russische Leibeigenschaft war ihm zuwider. Wenngleich er einen sensiblen, zur Einfühlung fähigen und präzisen Blick auf die Gesellschaft Russlands richtete, verbrachte Turgenew sein Erwachsenenleben zu großen Teilen auch in Deutschland – sieben Jahre lang, von 1863 bis 1870, wohnte er in Baden-Baden – und Frankreich.
Turgenew bewegte sich nicht nur physisch über nationale Grenzen hinaus. Er war mit Schriftstellern wie Theodor Storm oder Gustave Flaubert befreundet und befand sich mit ihnen in schriftlichem Dialog. Auch intellektuell bewegte sich Turgenew jenseits ideologischer Beladenheit und daraus entstehender dogmatischer Beschränkungen. Er war kritisch, hatte aber, anders als sein berühmter literarischer Zeitgenosse Dostojewski, keine ausgeprägten nationalistischen Ambitionen. Mehr als zur-realen wie literarisch-fiktionalen Handlung neigte Turgenew zur Beobachtung und eindrücklichen Beschreibung. Und mehr als zu einem programmatischen Bild von Gesellschaft neigte er zur Darstellung fühlender Individuen und menschlicher Schicksale in dieser. So werden – vor allem in Turgenews Novellen – Möglichkeiten von Liebe auch ganz im Zeichen dieser selbst, im Zeichen der existentiellen Qualität von Liebe beschrieben und erkundet.
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In Zusammenhang mit seiner Offenheit für Elemente westlicher, europäischer Kultur war auch seine enge und langjährige Bekanntschaft mit der-verheirateten-Sängerin Pauline Viardot ein Grund für Turgenews Aufenthalte in Deutschland und Frankreich. Viardot hatte er zu Anfang der 1840er-Jahre in St. Petersburg kennengelernt.
Bekannt wurde der Schriftsteller mit den „Aufzeichnungen eines Jägers“. Dabei zog die 1852 erschienene Sammlung von Erzählungen Sanktionen nach sich, denn Turgenews Geschichten wurden als allzu kritisch bezüglich des etablierten Leibeigenschaftsystems aufgefasst. International – und von literarischen Nachfolgern, u.a. Thomas Mann – hoch geschätzt blieb seit der Veröffentlichung im Jahr 1862 auch der Roman „Väter und Söhne“, der in Form generationeller Zuordnung das Verhältnis alter und neuer Weltbilder thematisiert. Ohne, – auch hier verfolgt Turgenew eher das Geschehen der Zeiten als dass er sich mitreißen lässt – dass eines über das andere wirklich triumphiert.
Im Zuge des Deutsch-Französischen Krieges zog nicht nur Turgenew, sondern auch das Ehepaar Viardot von Baden-Baden nach Frankreich. Der Schriftsteller, der sich mit der russischen Gesellschaft auf so besondere, anteilnehmende, sensibel-realistische Art beschäftigt und sich gleichzeitig – zeitweise hatte Turgenew auch Deutschland als seine Heimat ausgerufen – stets westlich orientiert gezeigt hatte, starb am 3. September 1883 in der Nähe von Paris. Bestattet wurde er aber schließlich in Russland. Sein Grab befindet sich auf dem Wolkowo-Friedhof in St. Petersburg.
Südosteuropa 2022 (E 8)
ISBN: 978-3-95402-388-2
Preis: 59,00 €
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